31.12.2013

Neujahrswünsche oder: Jemanden 'verstehen' ist kein Prozess meines meinenden Wissens, sondern mein unvoreingenommenes Fühlen seines Seins.

Sehr geehrte Leserinnen und Leser dieses Blogs
Liebe Hochbegabte und Hochsensible
Liebe Menschen

Mir ist es sehr danach, euch zu schreiben. Ich liess mir ein paar Wochen Zeit. Früher wartete ich für das Schreiben Momente ab, wo ich in der Betroffenheit schwamm, um zu schreiben. Heute verpflichte ich mich zu Momenten, wo ich von allem frei bin, zu schreiben. Eben ist so ein Moment, mir geht es gut und ich muss nichts.

Mein persönlicher Eindruck vom vergangenen Jahr ist, dass ich viele von euch dahin verändert wahrnehme, als dass wir alle mit dem Thema Hochbegabung/Hochsensibilität (ab hier HB/HS genannt) älter geworden sind. Wieder ein Jahr, sich mit seiner HB/HS oder beruflich mit jener anderer Menschen zu befassen. Neue Eindrück, altbekannte Leiden und Konflikte, mehr Achtsamkeit und damit mehr Bewusstsein. Mit geübtem Bewusstsein auch ein "teilweise" Absehen-können davon, also weniger Drama, bei aller Ernsthaftigkeit. Das ist mein Eindruck: Reife.

Ebenso: das Umfeld, Kollegen, Presse und Berufsleute verstehen besser, was es da gibt und wie Menschen mit solcherlei Prägungen allenfalls ticken. Unternehmen verstehen es besser, Human-Research-Leute interessieren sich, es wird hier und da Rücksicht genommen, da das Verständnis wächst. Und dennoch wieder Schocks, wenn es voll daneben läuft.

Ich nehme weiter wahr, dass man das Thema am liebsten greifbar und psychologisch oder medizinisch eintüten würde, einem Nagel mit Kopf gleich. Das scheint mir ein Gefühl zu geben, damit um mehr Verstehen gerungen werden könnte, um Verständnis und Wertschätzung, allenfalls Schutz bei Behörden, Schulen, Krankenkassen etc. Der Sache habhaft werden und sie organisieren - ich verstehe den Wunsch danach.

In dem selben Jahr "ist in mir die Sache weniger" geworden, ohne an Grösse zu verlieren. Die Grösse wurde eher grösser. Noch mehr Gruppen unterschiedlich Betroffener zählen für mich dazu oder habe ich neu kennen gelernt. Die Leisen. Die Asperger. Die Alten. Ganz junge. Frauen anders als Männer. Eltern mit deren betroffenen Kindern. Noch kaum erfasst: alle die mit ihrer Herkunft sich in einer Art Fremde fühlen und umgekehrt fremd gefühlt werden. Künstlerinnen, Künstler. Die Unsensiblen. Unbedachte. Wer immer. Was aber wurde 'weniger'? 

Weniger wurden meine Fragen oder mein Wunsch, die Hochbegabung und Hochsensibilität als Begriff zu erfassen, als würde ich damit an Kompetenz gewinnen. Mehr Kompetenz empfinde ich mE darin, wenn ich zu erkennen, zu spüren und zu verstehen vermag, wenn wer leidet. Darf ich mit dem Menschen in seine Situation oder Moment, kann ich - ohne Hindernis von Fachwissen - fragen: Warum oder weshalb leidest du? Und dann sind alle, wirklich alle Türen offen, nicht nur die der Hochbegabung oder Hochsensibilität. Und dann ist es oft eben nicht, "zu viel zu hören", "zu viel zu fühlen", "zu viel oder zu wenig zu denken und ertragen zu müssen" - meist ist es, dass dies nicht verstanden wird.
<< Dieser Mensch, ob hochbegabt, -sensibel oder sonst sich selbst, fühlt sich nicht verstanden - DAS will ich immer wieder neu erfühlen. >> Jona Jakob, 2014

Meine Meinung fürs neue Jahr ist, dass wenn ich mich nicht zu sehr mit dem beschäftige, was Hochbegabung oder Hochsensibilität wissenschaftlich und in Vereinen und Verbänden sein könnte, stellt sich mir DAS nicht in den Weg zu jenem Menschen, der gerade mir gegenüber oder bei mir sitzt und der verstanden werden möchte. 

In mir ist der Wunsch, Menschen als "Jetzt-im-Moment-Thema" zu verstehen, und dass eine Hochbegabung oder Hochsensibilität dabei nur eine mögliche Ursache ist. Vielleicht ist es Einsamkeit, Fremde, Unangenommenheit, Verlust oder Trauer, die jenen Menschen vor mir erscheinen lassen, dass er oder sie "sich einfach nicht verstanden fühlt". Das Thema heisst nicht Hochbegabung oder Hochsensibilität oder sonst wie. Das Thema heisst "Sich-nicht-verstanden-fühlen" - eine Bodenlosigkeit, eine Ohnmacht, ein Orientierungsverlust, Angst, Schmerz und Traurigkeit von grösster Dimension, für die ich mich zukünftig weiter öffnen können möchte, ohne gedanklich "zugestellt" zu sein.

<< Jemanden verstehen ist kein Prozess meines meinenden Wissens, sondern mein unvoreingenommenes Fühlen seines Seins. >> - Jona Jakob, 2014

So geht jede und jeder ein nächstes Stück Weg. Dies wird wohl für eine Etappe meiner.

Ich wünsche Ihnen und euch allen einen wunderbaren Start in die neuen Wochen, ins neue Jahr und auf Wege, wo jemand euch begegnet, der sich hinsetzen mag, so dass ihr ihm vielleicht zeigen könnt, worin ihr unverstanden seid und gerade dort einmal angenommen werden möchtet - ankommen dürfen, landen, auspacken, sich ins Gästebett legen, nach einem Teller Abendbrot, von dem niemand etwas von euch erwartet.

Versuchen wir es alle weiter ... - lieben Dank euch hierfür.

Mit den besten Wünschen und Gedanken für 2014

Jona Jakob
Zürich und Bern