10.01.2018

Hochbegabung: Es ist nicht der missverstandene / unverstandene Anteil der Kommunikation. Es ist der ungesehene Anteil (m)eines Lebens.


Liebe Leserinnen, liebe Leser
Geehrte Begabte und Sensible

Ich schreibe, ich bin mir sicher, den wichtigsten Post zum Thema, den ich in den 10 Jahren zum Thema Hochbegabung geschrieben habe. Der wichtigste.

  • Von mir sind die 'Bunten Zebras'.
  • Von mir sind die 'Vier Generationen Hochbegabter'
  • Von mir ist die Unterscheidung 'Instinktiv denkender Normalos vs. intuitiv denkender Begabter', den sogenannten Resilienz-Checker (Typ II)
  • Ich unterscheide seit Jahren die Idee des denkenden Denkens vs. des fühlenden Denkens
  • Von mir sind die Thesen, dass die Hochbegabung eine Freiheit und eine Verantwortung ist
  • Und last but not least ist es mE wichtiger, Kompetenzen im Umgang mit den Normalos zu haben. Es ist eine Sache, seine Begabung zu kennen - aber wichtiger bleibt es, das Denken, Fühlen, Wirken und Handeln der Normalos vertieft zu kennen.
Das waren bisher meine wichtigsten eigenen Beobachtungen aus zehn Jahren und hunderte von Begegnungen, wie auch eigenste Erfahrungen aus meinem Leben. Dem lege ich jetzt eine mE wichtigste Erkenntnis dazu: 

Hochbegabung / Hochsensibilität: Es ist nicht der unverstandene oder missverstandene Anteil der Kommunikation, welcher viel Leid erzeugt. 

Um die x-fache Potenz oder grösser in seiner Leidens-Dimension ist der UNGESEHENE Anteil (m)eines Lebens als Begabter / Sensibler. 

Das ist ein massiver Unterschied in seiner quantitativen Dimension. Es ist aber auch das viel grössere Problem, weil der 'Ungesehene Anteil' bei keiner Gelegenheit zur Sprache kommt. Das kann u.U. 'killing' werden.

Das erste, das Miteinander und seine Kommunikation ist oft ein (partielles) Unverständnis oder Missverständnis. Dieses ist aber nur von jenem Umfang, den der Kontext in dem Austausch umfasst, z.B. eine Planung. (Auf der Ordinate [senkrecht] die Thementiefe - auf der Abszisse [waagrecht] die Dauer der konfliktären Transaktion).

Beispiel: Wenn sich ein Begabter und ein Normalo in einer Planung nicht an selber Stelle treffen, dann "quält" dies Betroffene im Umfang des Themas Planung und im Umfang der Dauer der Planungsverhandlungen. 

Bild entwickelt von Jona Jakob, Aschaffenburg (c) - 2018.

Was aber nicht zum Vorschein kommt ist jene Dimension, wo Begabte / Sensible in ihrer Form jahrelang gelebt haben und weiter leben. Es ist eine Art 
  • Pool
  • Ozean
  • Becken
  • Berg
  • Massiv
  • Wüste
  • Endlosigkeit
  • Kosmos
  • Blase
  • Enzyklopädie
  • etc. 
was von niemandem erfasst wird. Niemand weiss, was ich alles erfasst habe, vernetze, clustere, rückschauend erkenne, vorausschauend erkenne, fühle, wahrnehme, behalte, checke, unterscheide. Niemand kann die innere Dimension erfassen - aber je ungeschickter und irgendwie "fremder" ich mich gebe und ausdrücke, vielleicht sogar bereits als Autist es schier nicht schaffe, desto absonderlicher hält man mich, nimmt mich nicht ernst, erkennt mich nicht. Man schaut vielleicht sogar bewusst weg. 

Alle Anteile, die von mir nicht gesehen werden (können), können weder angenommen noch geliebt werden 
(Maslow-Bedürfnispyramide: Existenzielle Bedürfnissstufen 
1-3; die 3. Stufe: Soziale Annahme). 

Ich vereinsame mit meinem Leben.

Ein Begabter / Sensibler wird nicht nur dann (partiell) nicht verstanden und damit aberkannt / verkannt, wenn ein Miss- oder Unverständnis in einem Gespräch oder einer Begegnung vorfällt, was bisher als einer der grössten Knotenpunkte der Thematik 'Hochbegabung' gehandhabt wurde.

Nein, es kann mit meiner Betrachtung nun so sein, dass dies nur einen Bruchteil dessen darstellt, was alles nicht erkannt wird. Wir können getrost von 1 % sprechen und 99% des Begabten-Lebenshintergrundes, der gar nicht erfasst wird. 


Wie erkläre und differenziere (s)ich das?

Mein Dasein als (begabter) Mensch besteht nicht alleine aus den Momenten, wo ich mit jemandem im Kontakt stehe, mal recht, mal schlecht. Das ist nur ein Teil meines gelebten Daseins. Der viel grössere Anteil ist jener, in dem ich lebe, erfahren, aufnehme, mit allen fünf Sinnen und meinem Denken und Fühlen AUFNEHME. In diesen Momenten bin ich meist still / wortlos / ohne Gespräch. Ich lese und bleibe mit meinen Gedanken für mich. Ich reise und bleibe mit meinen Wahrnehmungen für mich. Ich erfahre Kunst, Liebe, Arbeit, Menschen, Geld, Probleme, Krankheit, Belastungen, Entwicklungen, etc, etc. etc. für mich alleine. Und was begabte Menschen eben meist ausmacht, ist nicht eine so oder so gelagerte Intelligenz, sondern eine überhöhte Fähigkeit, Fakten und Informationen zu bunkern / lagern / durchzurechnen / zu checken / zu zerkauen / zu verdauen. 

Suizide namhafter Künstler - ob mit oder ohne Depression, Drogen, etc. - sind nicht, wie es die Presse stets meint, an der pathologischen Mixtur der aktuellen Situation gestorben. Die war, wie oben die "1%", nur der letzte Tropfen im übervollen Fass. Ihre Drogen, Abstürze, Eskapaden, Depressionen, die könnte wesentlich mehr daher kommen, dass für sie "Normalos" schon den Künstler an sich in seiner Dimension 'wahnsinnig heftig / geil / cool / könnend / talentiert / etc.' fanden. Aber für diesen Menschen (z.B. Prince) war das ein Klacks. Für diesen Menschen war sein Leben seine alleine zu tragende Dimension, unfassbar gross, tief, hoch, breit, voll, dicht, heftig, dynamisch, etc...

Und dass DAS niemand ansprach, aufgriff, versuchte zu erfassen, (wenn man das schon in sich hat), das muss zu der Empfindung führen, "absolut sinnlos was abzuliefern, selbst wenn man gefeiert wird und reich wurde - es sind nur alles Banausen - niemand weiss wirklich, was in mir steckt). Man fühlt sich sinnlos, wenn es niemand wahrnimmt und einem damit in den Kontakt, also die Annahme zieht. 

Die Zahl grosser Menschen, Denkender, Fühlender, Gestaltender, Bewegender, Spielender, etc. ist gross genug, nochmals genau nachzuschauen, woran genau jemand seinem Suff verfiel, seinem Rückzug, in seine Menschenscheu und Ablehnung oder Formen von Wahn bis hin zum Selbstmord oder sonst dramatischen Tod trieb. 

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Seit zwei Wochen läuft auf Sky Atlantic eine neue Serie mit dem Titel 'The good doctor'. Ein autistischer junger Mann ist Arzt und möchte nun Chirurg werden. Er kriegt die Assistenzstelle nach unzähligen Widerständen. Ich sehe mir die erste Folge an. Es gibt Szenen, wo er mit seinem enormen Wissen unmögliche Probleme löst und Menschen das Leben auf unkonventionelle Art und Weise rettet. Als (Normalo-)Zuschauer ist man natürlich auf diese spannenden Szenen fixiert, wie schon immer. Aber womit mich die erste Folge der Serie antriggerte und völlig aus der Fassung brachte, bis ich hier schreiben konnte, sind Szenen und Sekunden, wo der junge Mann mit seinem verlorenen Blick nichts tut und nur wo dasteht, nur schaut, nur langsam wo hingeht oder wo sitzen bleibt, als würde die Welt und die Zeit stehen bleiben. DAS sind die Momente, wo the good doctor LEBT. Dann nimmt er wahr, nimmt auf, checkt, reflektiert, überdenkt, denkt um, sucht, findet, entwickelt. Man muss sich diese Aufnahme von Informationen wie einen 3-D-Laserscanner vorstellen, der einfach Zeit und Raum abscannt und aufnimmt, restlos alles. In seinen unscheinbarsten Momenten ist der Begabte die Denkmaschine, die er ist. Da ist er der Begabte und Sensible. Wenn er dann als Arzt seine Leistung abdrückt, dann sind das nur die Brosamen dessen, was er eigentlich umfassen würde. 

Nach der Folge verliess ich das Bett - und nur weil ich mich und das Thema kenne, konnte ich mich halbwegs retten. Aber vor dem Bild und Gefühl, nicht in meiner Unverstandenheit zu leiden, die noch halbwegs verkraftbar ist, sondern von je her in meinen allegrössten Anteilen ungesehen verblieben zu sein, ob von Vater, Mutter, Geschwister, Kollegen, Chefs, ex-Frau, etc. etc. das habe ich vielleicht noch gar nicht verarbeitet. Denn das erzeugt in mir die Wucht, wie wenn ich auf einer Skipiste stehen würde, ins Tal schauend ... und dann schiesst mich der Druck einer Monsterlawine vom Fleck, wirbelt mich durch Luft und Sturm, Gemenge und die Last dessen, was danach auf mir liegen bleibt. 

Es ist viel weniger das Unverstandene - es ist viel mehr das Ungesehene. Oder bitter gesagt: Schöner ist es, missverstanden zu sein, als gar nie erst angesprochen zu werden.

Ich kann bei der Betrachtung unzählige Situationen erkennen, wo ich weitaus mehr verstehe, warum jemand seine Begabung erkennt - und dennoch keine Lust hat, sich zu versuchen. All die Underarchiever zum Beispiel. Sie nicken verständnisvoll, da sie das alles wahrnehmen - sie kommen aber nicht in die Gänge. Alle Ratio greift nicht, weil der ungesehene Anteil, das was im Alltag schlicht untergeht, nicht erfasst wurde, nicht erfasst wird. 

Das ist vermutlich der einleitende Gedanke zu einem tiefen Kapitel. 


Jona Jakob 
Coach für Hochbegabte / Hochsensible Erwachsene
Zürich und Bern - Frankfurt und Aschaffenburg



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