09.11.2009

Hochsensibilität und Distanzen

Eine der Formen von Empfindsamkeit ist eine erhöhte Wahrnehmung für andere Wesen. Für Menschen, Tiere, Kommunikationen. Die beginnt, sobald jemand in Sichtweite kommt. Ich geh spazieren und auf freiem Feld kommt mir in 300 Meter Abstand jemand entgegen. Z.B. eine Frau, allein. Da fängt es in mir an zu kommunizieren und ich nehme die kleinste Regung der noch weit entfernten Person wahr. Bei mir springt dann alles wie auf einem präzisen Radar an. Ich sehe jede Form von körpersprachlichen Signalen, Beschleunigung, Verlangsamung, Seitenwechsel, Handtaschen, etc. Langsam werden Blickkontakte möglich, Gesichtszüge werden erkennbar. Ich sehe sehr gut und damit auch kleinste Angstregungen im Augenwinkel. Kopf und Hals, wer versteift sich, wer kann offen 'Grüezi' sagen? Ich grüsse dann meist sehr früh und laut, damit sich die Anspannung auflösen kann und ich als Mann meine Korrektheit in die Stimme geben kann. Dann passiert man sich, mal sich ansehend, mal einfach ohne jeden Blick.
Von da an spür ich die Person im Rücken. Ich nehme wahr, ob sich Schritte beschleunigen, ob es hinter mir hektisch und steif zu und her geht. Menschliche Verkrampfungen sind mir mit den Jahren erste Signale geworden, obwohl gerade die so gut versteckt werden können. Ich merke, wenn jemand deswegen zwischen Verschliessung und Höflichkeit laviert. Aber da kommt schon ein nächster Mensch am Horizont (die Schweiz ist voll von Menschen :-)
Zurück nach Hause. Menschen ums Haus, vor der Garage, in der Waschküche, im Treppenhaus, hinter Wohnungstüren, auf Terrassen und im Haus gegenüber, ... ich nehme alle wahr, weiss halbwegs wo sie sind, was sie tun und ob sie sich auf mein Tun beziehen. Es ist viel, an manchen Tagen zuviel.
Dann mache ich zu, lasse Sonnenstoren runter, gehe erst in menschenarmen Tageszeiten raus, nehme meist mein Auto, weil ich den ÖV kaum ertrage und versuche, irgendwo allein sein zu können. Damit sind auch Sonntage eine Qual, da nun all die Menschen überall sind, inkl. ihren ganzen Familien, Kindern, Hunden. So musste ich lernen, dass dies auch in einer zu nahen Beziehung eine massgebliche Rolle spielen kann.

Sollte ich also Arbeiten erfüllen können, wie Administration, Texte, Post, Buchhaltung etc. so muss ich allein sein. Mein Hauptwerk ist ja die Arbeit mit Menschen, im Coaching, im Unterrichten und im Prüfungsabnehmen. Wenn jemand in der Büro-Phase von mir Termine will oder irgendwie per Erwartungen für mich einen Druck erzeugt, geht mein Schaffen wie eine leere Batterie zugrunde. Ich gerate in eine latente Tatenlosigkeit, die zwar noch wahrnimmt, die aber kaum mehr produziert. Ich stagniere. Da kann ich noch Wäsche zusammenlegen oder staubsaugen, aber ansonsten ist fertig.
Daher: Ich habe gelernt, dass ich meine Zeit-Räume und meine Raum-Räume (Sphären) ohne Menschen brauche.
Daher - Distanz ist mir enorm wichtig geworden. Meine eigene Wohn-Höhle, wo ich mich zurückziehen kann und die mir positive Energien schenkt. Von dort aus kann ich mich erholen, tanken, meine Pendenzen abarbeiten (was ja jedem Menschen gut tut). Dann komme ich wieder hervor und bin präsent - mehr präsent, als vielleicht vorstellbar. Dann freue ich mich auf Menschen, Klientinnen und Klienten, Schülerinnen und Schüler, Absolventinnen und Absolventen, dann mag ihnen zuhören und für sie präsent sein. Dann geniesse ich mein Radar und mein Wahrnehmen, welches ich meistens nur 'Sehen' nenne.

Distanzen -
Damit ich ganz und gar auf meine Kunden eingehen kann, brauche ich menschfreie Momente. Daher zur Zeit mein Wunsch, vom Arbeitsort fern zu leben (ich arbeite in Zürich und  lebe in Frankfurt), fremd, sozusagen. Heute analysiere ich meine Nähen und Distanzen und regle sie. Und tariere damit meine Hochsensibilität aus, die mich beschenkt, die mich beraubt. Da muss man was machen :-) ... ich tu es.

Herzlich, Jona Jakob