08.04.2011

Psychosoziale Folgen des Vaterverlusts: Vergleichbares Trauma wie beim Verlust der Mutter

Hallo zusammen
Heue früh stiess ich per Statusmeldung eines Kontaktes auf diese Informationen:
Quelle: dt. Ärzteblatt
Link: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=56851

Petri, Horst
Psychosoziale Folgen des Vaterverlusts: Vergleichbares Trauma wie beim Verlust der Mutter
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THEMEN DER ZEIT
Kinder und Jugendliche betreuende Ärzte sollten die psychosozialen Folgen beim Verlust des Vaters für die Diagnostik berücksichtigen und der Mutter als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
Die ausreichende Anwesenheit der Mutter und ihr einfühlender Umgang mit den wechselnden Bedürfnissen des Säuglings gehören zu den basalen Voraussetzungen für eine gesunde psychische Entwicklung des Kindes. Entsprechend bedeutet eine längere oder endgültige Abwesenheit der Mutter, wie die Deprivationsforschung ab Ende des Zweiten Weltkrieges überzeugend nachweisen konnte, ein schweres seelisches Trauma. Diese Zusammenhänge sind seit Langem einer breiten Öffentlichkeit und vor allem Ärzten bekannt, die Kinder und Jugendliche behandeln.
Auffallenderweise haben dabei alle namhaften Deprivationsforscher, wie René Spitz, John Bowlby, Anna Freud, Dorothy Burlingham und D. W. Winnicott, ihr Augenmerk ausschließlich auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung gelenkt. Eine systematische Vaterforschung setzte erst in den letzten drei Jahrzehnten ein. Eine angemessene Rezeption der Ergebnisse steht jedoch bisher aus, obwohl sie zu einer grundlegenden Revision bis dato bestehender Vorstellungen über väterliche Aufgaben geführt haben.
Die neueren Einblicke in die wesentlichen Vaterfunktionen verdanken wir hauptsächlich der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und der Bindungsforschung. Erstere konnte durch umfangreiche Säuglings- und Kleinkindbeobachtungen nachweisen, dass der Vater im Unterschied zu früheren Auffassungen bereits im Lauf des ersten Lebensjahrs im Rahmen der Dreiecksbildung Mutter-Vater-Kind, der sogenannten Triangulierung, enorme Bedeutung bekommt. In erster Linie trägt er zur notwendigen Umstrukturierung der frühen Mutter-Kind-Dyade bei. Durch den Elementarkonflikt zwischen Bindungswünschen und Autonomiebestrebungen gerät der Säugling bei seinen ersten Ablösungsschritten von der Mutter in eine schmerzhafte, weil hochambivalente, Trennungskrise. Die dabei auftretenden Trennungsängste werden durch die verstärkte Anlehnung an den Vater abgepuffert. Neben diesem Halt bietet der Vater als Dritter im Bunde dem Kind etwa ab dem zweiten Lebensjahr eine zur Mutter gegengeschlechtliche Orientierung und Identifizierungsmöglichkeit an, wodurch dessen zu enge Bindung an die Mutter verhindert und eine altersgemäße Separation ermöglicht werden.
Komplementär angeborenes Bindungsrepertoire
Diese Befunde sind durch die jüngere Bindungsforschung eindringlich bestätigt und ergänzt worden. Nach ihr verfügen Mütter und Väter über ein unterschiedliches, aber in idealer Weise komplementär angeborenes Bindungsrepertoire, das durch die bindungssuchenden Verhaltensmuster des Kindes aktiviert wird. Kurz gefasst: Das Bindungsverhaltenssystem der Mutter zielt neben ihren nährenden und pflegenden Funktionen mehr auf eine emotional Schutz und Sicherheit bietende Interaktion ab, während die Bindung an den Vater stärker über dessen „Explorationsverhaltenssystem“ erfolgt. Durch seine „Spielfeinfühligkeit“, motorische Handlungsorientiertheit und stärkere gesellschaftliche Verankerung fördert er den Erkundungsdrang des Kindes, seine Neugier, Risikobereitschaft und seine kognitiven und instrumentellen Fähigkeiten bei der schrittweisen Aneignung der Welt.
In der ersten ödipalen Phase um das vierte bis fünfte Lebensjahr herum und noch einmal in der zweiten ödipalen Phase während der Pubertät ist der Vater außerdem als Identifikationsobjekt unverzichtbar. Durch die Verinnerlichung seines Vorbilds verhilft er dem Kind zur Integration seiner Triebwelt, zum Aufbau einer sozial adaptierten Ich- und Über-Ich- Struktur und, bei Jungen und Mädchen gleichermaßen, zu einer stabilen psychosexuellen Identität.
In der Familienforschung besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass diese spezifischen Vaterfunktionen durch die Mutter allein nicht ersetzbar und durch soziale Ersatzväter nur bedingt kompensierbar sind. Insofern muss man im Fall eines definitiven Vaterverlustes von einem vergleichbaren Trauma für das Kind ausgehen wie bei der Mutterentbehrung. Mit diesem Befund, der auch den Risikokriterien der Psychotraumatologie entspricht, sind Ärzte vor neuartige Aufgaben im Erkennen und im Umgang mit Scheidungs- und Trennungsfamilien gestellt. Der Umfang des Problems ist beträchtlich, wenn man von geschätzten zehn Prozent Kindern und Jugendlichen in der Bevölkerung ausgeht, die ihren Vater nie kennengelernt haben oder kurze Zeit nach der Trennung der Eltern für immer verlieren.
Trennungstrauma und Loyalitätskonflikt
Zur diagnostischen Einschätzung vieler seelisch bedingter Krankheitsbilder sind Kenntnisse über die Familiensituation und grobe Familienkonflikte unverzichtbar. Im Vorfeld eines Vaterverlusts erlebt man häufig Mütter von Scheidungskindern, die über deren diverse psychische und psychosomatische Symptome oder soziale Verhaltensauffälligkeiten klagen, die angeblich oder real jedes Mal im Zusammenhang mit dem Besuch des Vaters auftreten. Diese Symptomatik ist im Allgemeinen als eine normale Reaktion auf das Trennungstrauma, das Gefühlschaos und auf die Loyalitätskonflikte einzuschätzen, in die Kinder zwangsläufig bei jeder Trennung/Scheidung geraten. Nur wenn sie dauerhaft fortbesteht, ist das Aufsuchen einer fachlichen Beratung oder Therapie zu empfehlen.
Ein Alarmsignal sollte bei jedem Arzt jedoch dann aufleuchten, wenn die Mutter um eine Bescheinigung bittet, die die Aussetzung der Besuchsregelung mit dem Vater wegen der Schwierigkeiten des Kindes zum Ziel hat. Ärzte können aus vielerlei Gründen zu einem solchen Zugeständnis bereit sein, nichts ahnend, welchen Teufelskreis sie damit in Gang setzen, von Jugend-amts- und Gerichtsstreitigkeiten bis zum PAS (parental alienation syndrome). Die Entfremdung des Kindes vom Vater führt in vielen Fällen über dessen Ausgrenzung zum völligen Kontaktabbruch.
Recht auf beide Eltern
Daher sollte sich jeder Arzt zum Prinzip machen, was seit einiger Zeit im Familienrecht und im neuen Kindschaftsrecht als Regel gilt: „Jedes Kind hat das Recht auf beide Eltern.“ Da er als Vertrauensperson oft die erste und einzige Anlaufstelle für alleinerziehende Mütter darstellt, hat er die Chance, ihre Motivation für eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Vater zu stärken oder für beide rechtzeitig die richtigen Weichen zu einer fachgerechten Weiterbetreuung zu stellen.
In vielen Fällen erfährt der Arzt nichts oder nur wenig über die Trennungsumstände, entweder weil die Mutter und schon gar die Kinder ungern darüber sprechen oder weil er keine gezielten Nachfragen stellt. Dies gilt besonders für den Vaterverlust. Unabhängig davon, ob er vom Vater selbst ausging oder von der Mutter verursacht wurde, stellt die definitive Vaterentbehrung für alle Beteiligten ein starkes Tabuthema dar. Die Tatsache wird verschwiegen und verleugnet, weil sie von einer heftigen Affektmischung aus Schuldgefühlen, Scham, Demütigung, Verlassensein, Enttäuschung, Wut, Hass und Rachebedürfnissen begleitet wird.
Inzwischen ist aber die Vaterdeprivationsforschung weit genug fortgeschritten, um einen Zusammenhang zwischen seelischen und psychosomatischen Störungen, selbstverletzendem Verhalten, Beziehungsstörungen, sozialen Auffälligkeiten bis hin zur Kriminalität, zum Leistungsversagen, zu kognitiven Defiziten und psychosexuellen Identitätsproblemen von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden mit einem erlittenen Vaterverlust anzunehmen. Die protektiven Faktoren, die das Kind konstitutionell mitbringt oder die von einem stützenden Umfeld bereitgestellt werden, können die Folgen mildern, aber das persönliche Leiden nicht aufheben. Daher wäre es wichtig, dass der Arzt als oft erster Ansprechpartner und Autorität das Tabu aufbricht und bei Scheidungs- und Trennungsfamilien seinen Aufmerksamkeitsfokus stärker auf einen möglichen Vaterverlust richtet. „Wo lebt der Vater?“, „Wie ist das Umgangsrecht geregelt?“, „Wann hat das Kind den Vater zum letzten Mal gesehen?“. Solche Fragen zu stellen, gehört nicht nur zum diagnostischen Instrumentarium, sondern zur hohen ärztlichen Kunst. Nur mit genügend Wissen, Einfühlung und Verständnis kommt ein Dialog zustande, der die Barrieren abbaut, und bei Müttern, Vätern und Kindern die Bereitschaft weckt, professionelle Hilfe in einer psychosozialen Beratungsstelle oder bei einem Psychotherapeuten aufzusuchen. Diesen Weg vorbereitet zu haben, ist ein großes ärztliches Verdienst.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2007; 104(22): A 1572–4
Literatur
Petri H: Das Drama der Vaterentbehrung. Herder 2006.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Horst Petri,
Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalytiker, Carl-Herz-Ufer 27, 10961 Berlin
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Persönlich wie als Mann bin ich (wenn auch kinderlos geblieben) erleichtert, diese Darlegung erfahren zu haben.
Beste Grüsse
Jona